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Die Zwergbirke

Weiter unten auf dem erwähnten Gelände befindet sich nicht kultivierbares Land in Flussnähe. Felstrümmer, steiniger Boden, bewachsen mit Ginsterbüschen, Eschen, Eichen und insbesondere dort wo zu viele Steine und Sand dominieren, eine ganze Reihe von Birken. Ein eleganter Baum mit der gefleckten weissen Rinde und den lichtgrünen Blättern unverwechselbar und im Herbst mit goldgelben Blättern von unbeschreiblicher Poesie. Die stoische Ruhe dieser eleganten Bäume, deren Blätter im Wind leicht flatternd eine Leichtigkeit des Seins hineininterpretieren lassen, die Alltagssorgen schon fast blasphemisch erscheinen lässt, ist unverkennbar und ausgesprochen bemerkenswert.

 

Unter diesen brav dastehenden und mit kargem Boden zufriedenen Birken, welche nicht mehr als sieben acht Meter in die Höhe reichen, weil für grösseres Wachstum doch etwas mehr Nährstoffe im Boden notwendig wären, fällt eine Birke auf die das Schicksal mit der vorerwähnten Eiche teilt. Der Same ist auf einen Felsen mit wenig Erde in der Ritze gefallen. Für den Austrieb hat Feuchtigkeit und Nährstoffgehalt der Vertiefung im Felsen gereicht, aber es ist offensichtlich, dass in diesem Fall mit der ganz kleinen Kelle angerichtet werden musste.

 

Die Birke ist altersmässig mit jenen weiter hinten gewachsenen vergleichbar, von der Grösse her aber massiv zurückgeblieben. Statt der sieben acht Meter ragt die Spitze des Bäumchens gerade mal gut einen Meter über den Stein. Der Blick auf das Wurzelwerk macht deutlich, dass eine Standortverschiebung im Sinne der Eiche nicht einmal in Erwägung gezogen worden darf. Die Wurzeln haben sich in den Boden verwachsen welcher von allem Anfang an zur Verfügung stand. Entsprechend, so könnte man folgern, ist die Existenz dieser Birke ein ewiges Leiden, geplagt von zu wenig Nährstoffen, zu wenig Wasser und dank privilegierter Lage, was das Licht angeht, eher zu viel Sonne.

 

Soweit die menschliche Interpretation des Sachverhaltes. Das Erleben der Birke dürfte ein ganz anderes sein. Natürlich musste auffallen, dass Mangelerscheinungen auftreten würden, wenn denn die Birke unverhältnismässig rasch hätte wachsen wollen. Tatsache aber ist natürlich, dass die Birke gar nicht auf die Idee kommt dies zu tun da die Entwicklung der eigenen Wesensart nicht von ihr allein, sondern im Austausch mit allem vorangetrieben wird. Wenn nicht genügend Nährstoff zur Verfügung steht, wäre dies die Konsequenz eines zu grossen Bedarfs was aber nicht in Erwägung gezogen wird da sich – und das ist die Weisheit auch dieser Birke – der Bedarf nach dem Vorhandenen richtet und nicht umgekehrt.

Die Birke hat ein Streben nach Vollendung, aber keine Vorstellung darüber, was diese Vollendung beinhalten wird. Entsprechend genügt es vollkommen, sich eigengemässig zu entwickeln. Ob da nach zwanzig Jahren eine hohe oder eine kleine Birke steht, ist vollkommen irrelevant, relevant ist lediglich, dass zwanzig Jahre Birkendasein möglich waren, wobei nicht die zwanzig Jahre als Kriterium zählen, sondern das Birkendasein.

 

Jedes Blatt dieser Birke ist so birkenmässig, wie das Blatt jeder anderen Birke. Die Kreation dieses Blattes ist pure Lebensfreude, indem diese eben im Austausch mit der Umgebung überhaupt möglich ist. Das bedeutet aber, dass sich diese Birke bezüglich Lebensqualität von anderen Birken überhaupt nicht unterscheidet, dass jeder Vergleich bezüglich irgendeines Kriteriums bedeutungslos ist und nur die Tatsache bemerkenswert sein sollte, dass selbst an dieser Stelle eine Birke wachsen konnte.

 

Der Kern des Lebens besteht in der Wesenhaftigkeit der spezifischen Existenz, wobei diese ihrerseits einem wesenhaften Wandel unterliegt sodass darüber eben nichts ausgesagt werden kann.

Entsprechend ist diese kleine Birke nicht zu bedauern, sondern als weiteres wundervolles Mysterium der Natur bestenfalls

zu bestaunen indem es einen weiteren Beitrag zur Vielfalt des ewigen Daseins bedeutet.

 

Auf den Menschen bezogen bedeutet dies nichts weniger, als dass jeglicher Vergleich von Menschen lediglich etwas über die Beschränktheit des Vergleichenden aussagt indem die Essenz, nämlich das Birkendasein, zur Nebensächlichkeit wird und die Nebensächlichkeit, nämlich das Vergleichskriterium, zur Hauptsache.

 

Auch der Gedanke, dass es die Birken im Hintergrund besser haben, als der Bonsai auf dem Stein, ist von erstaunlicher Beschränktheit. Das Kriterium für Lebensqualität kann nur das Birkendasein sein und dieses ist in beiden Fällen offensichtlich gegeben. Die Beurteilung des Birkendaseins ist nur möglich, wenn Kriterien konstruiert werden, die aber einer abgekoppelten Vorstellungswelt entspringen, da es nachvollziehbar ja nicht möglich ist, das Erleben einer Birke mit dem Erleben einer anderen Birke zu vergleichen oder verstehen. Und auch nicht möglich ist es, das Erleben eines Menschen mit dem Erleben eines anderen Menschen zu vergleichen.

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