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Das innere Kind

Es macht den Anschein, dass der Mensch auf seinem Weg vom Scheinmensch zum Tiermensch insbesondere zwei Probleme beschäftigen. Einerseits ist es der Versuch, in Anlehnung an Vorbilder einen erträglichen Lebensgang zu etablieren. Anderseits besteht die Notwendigkeit, am Ende halt doch auf das stets schon Vorgegebene zu bauen und die Irrtümer erfolgreich verarbeitet werden müssen.

 

Während der ersten drei Jahre versucht jeder Mensch wie bereits erwähnt, durch totales Vertrauen in die primären Bezugspersonen das Rüstzeug für den Schritt in die Welt zu bekommen. Geradeso wie das Küken, kaum nachdem es aus dem Ei geschlüpft ist, der Henne, so sie denn zugegen ist, folgt und sonst halt jemandem der in Erscheinung tritt und als Mutterersatz seinen Dienst erfüllen kann. Damit wird eine Ergründung der Lebensverhältnisse unter dem Schutz einer erfahrenen Führung ermöglicht. Ausgeprägt ist dies unter anderem bei den Wildschweinen.

Diese rotten sich unter der Führung einer weiblichen Autorität in Gruppen von mehreren Müttern und deren Kindern (bis zwei jährig) zusammen, um so das Leben in der Gruppe zu üben und die wichtigsten Futterplätze und Vorsichtsmassnahmen kennenzulernen.

Beim Menschen übernimmt diese Aufgabe hauptsächlich die Mutter, welche aber aufgrund der in dieser Aufgabe und dem eigenen Werdegang stets enthaltenen Überforderung immer auch Vorgaben mit auf den Weg gibt, die nichts taugen. Gemeinhin werden diese als Traumata, Verrat oder eben leidvolle Lebenserfahrungen genannt welche das Urvertrauen, ohne das ein Säugling schon gar nicht zu atmen beginnen würde, nachhaltig beeinträchtigen.

 

Diese Verletzungen, welche erfolgen, ohne dass das verletzte Kind auch nur im Geringsten etwas dagegen tun könnte, sind es, welche zeitlebens den Zugang zum Leben im Hier und Jetzt immer wieder erschweren.

 

Es ist der Preis für die Fähigkeit, sich von der Welt Vorstellungen zu machen und sich mit dem Wunsch, diese zu realisieren, hoffnungslos zu überfordern. Solange dies als Spiel verstanden werden kann und das Misslingen durch percymässige, also verkraftbare Trauer überwunden wird, stünde einem freudvollen Leben im Hier und Jetzt nicht viel im Wege. Aber das entspricht nicht der menschlichen Vorstellungskraft. Diese geht weit über das menschlich Machbare hinaus und wird damit zeitweilig zur extrem irreführenden Illusion, aber auch zur sinnstiftenden Herausforderung oder einfacher gesagt zu einem weiteren Dilemma, mit welchem jeder leben muss. Problematisch ist allerdings, dass je stärker die Traumatisierung ist, desto unrealistischer können die Vorstellungen werden, welchen nachgeeifert wird und an welchen zu scheitern, die grosse Angst und Schwelle vor dem Hier und Jetzt generiert.

 

Das vermeintliche Mittel dagegen – und hier schliesst sich der Kreis – ist die Tagträumerei, das Verharren in noch so grandiosen Vorstellungen und somit das Abseitsstehen vom Hier und Jetzt. Der Weg zur Überwindung der Tagträumerei ist die percymässige Ernüchterung. Es ist das Hinterfragen der Modelle. Percy hört zwar zu, wenn ein Modell präsentiert wird, aber ohne die klare Sinneswahrnehmung der sich öffnenden Türe, bleibt es Theorie und – das ist das Entscheidende – vollkommen irrelevant. Keine Theorie ist stärker als die eigene Erfahrung. Und diese wird mit dem Erleben gesteigert, nicht mit der Theoriebildung. Percy wartet zwischenzeitlich nicht mehr, bis er hört wie die Haustüre aufgeht, sondern macht sich schon auf den Weg, wenn ich von Küchenbank aufstehe und er mir gemütlich folgen kann mit der gemachten Erfahrung, dass die Möglichkeit einer sich öffnenden Haustüre besteht.

 

Dieser Automatismus des Lernens ist dem Menschen offensichtlich überall dort genommen, wo eine Trauma bedingte, bittere Enttäuschung droht und so das Verharren in der ungeprüften Theorie fast unausweichlich bleibt. Dem inneren Kind wird aufgrund der traumatischen Ereignisse in frühester Kindheit offenbar die Legitimation genommen, nach Erfahrung und Wesensart zu handeln. Sigmund Freud nannte es Kastration und traf damit den Nagel auf den Kopf.

 

Die gute Nachricht ist, dass der Mensch die erlittene psychische Kastration – von dieser ist hier die Rede – rückgängig machen kann und so das innere Kind wieder als höchste Instanz etabliert werden kann. Und zwar in der Art, wie es Erich Fromm mit der Bildung innerer Eltern beschrieben hat. Diese inneren Eltern, welche nach Carl Gustav Jung als Instanzen in der Psyche angelegt sind, wie beim Körper das Wachstum von Armen oder Beinen, müssen die unvollständigen realen Eltern im Lauf der Zeit ersetzen und so dem inneren Kind als nicht weiter zu hinterfragende Instanz zur Seite stehen. Konkret bedeutet dies, dass die bedingungslos liebende, innere Mutter im Gegensatz zur überforderten leiblichen Mutter zu allem Ja sagt, was das innere Kind an Handlung vollziehen möchte. Also das Kind ermuntert, seiner Inspiration zu folgen und die Idee in die Handlung umsetzt. Die innere Mutter sagt ja zum Eichenkind, welches versucht, seinen Standort zu wechseln, sie sagt ja zur Trauerbirke, die höher hinauswill, sie sagt auch ja zur Birke, die nur ein Bonsai werden kann. Die innere Mutter stellt Handlungsideen des inneren Kindes nie in Frage. Sie sagt ja zu allem, was das Kind reizt. Ja, wenn Du heute nicht zur Schule gehen, sondern Kristalle suchen willst, dann machen wir das so. Der innere Vater anderseits steht auch voll und ganz hinter dem inneren Kind, bringt aber Vernunftsargumente, ohne damit von der geplanten Handlung abzuraten. Er sagt also im obigen Beispiel, bedenke, dass die Schule schwänzen unangenehme Konsequenzen haben kann, aber, wenn Dir das Kristallsuchen wichtiger ist, gehen wir Kristalle suchen. Auch er kastriert das innere Kind nicht.

 

Es bleibt dem inneren Kind überlassen, in die Schule oder auf Kristallsuche zu gehen. Es ist der Eiche überlassen, ob sie einen Wurzeltrieb vorantreibt mit dem Risiko nie auf Erde zu stossen oder nicht. Das Problem ist nämlich, dass die Eltern diesen Beschluss für das Kind gar nicht übernehmen können. Es gibt kein umfassendes Vorbild für die Gestaltung des eigenen Lebens. Darin liegt ja gerade der Reiz. Und insbesondere Eltern als Vorbilder können ihre Kinder ja nur auf das Leben in einer Generation vorbereiten, zu welcher die Kinder gar nie gehören werden.

 

Damit sollte klarer geworden sein, dass kein Weg am Anerkennen des inneren Kindes als oberste Instanz vorbeiführt. Sämtliche Lügengebäude, also Institutionen wie Kirchen, Konzerne, Universitäten und internationale Organisationen erschweren nur den Zugang zur eigenen Individualität, indem sie eine scheinbare Sicherheit und Schutz vor dem Leben dank „anerkannten" Modellen vortäuschen, welche der Tagträumerei, also dem Paradies im Himmel (Kirche), Karriere und Reichtum im Leben (Konzern), ewiges Leben dank Prognosen (Universität) und Friede auf Erden (internationale Organisationen), Vorschub leisten, ohne diese Versprechen auch nur im Entferntesten einhalten zu können, oder wenn, dann nur im Rahmen hohler Tagträumerei.

 

Damit ist auch klar, wie beschwerlich der Weg aus diesen festgefügten Mauern ist. Jeder Mensch muss trotz der schmerzlichen Erfahrung während der ersten drei Lebensjahre die festgebrannte Überzeugung, dass er sich selbst nicht vertrauen kann, durch abermalige schmerzliche Erfahrungen zur Einsicht kommen, dass er trotzdem nur auf sein inneres Kind und dessen Inspiration bauen kann.

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