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Der Feuersalamander im Brunnen

Gut möglich, dass nicht jeder Leser mit Feuersalamandern vertraut ist. Das Tier ist seiner Wesensart nach zumindest für mich als eigenwilliger Beobachter ausgesprochen liebenswert, interessant, tollpatschig und in erstaunlicher Weise lebenserprobt. Es ähnelt einer unter Drogen stehenden Echse, die mit verlangsamten Bewegungen und einer Giftigkeit vortäuschenden schwarzorange oder schwarzgelb gemusterten, stets feucht zu haltender Haut, sich vor viel schneidigeren Feinden erfolgreich schützen kann, indem sich diese nicht sichtlich, aber doch vermutlich geekelt abwenden, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dies zu fressen.

 

Dennoch ist der Feuersalamander in der Lage, so es warm und nass genug ist, sich bei drohender Gefahr etwas rascher aber nicht minder verquer zu bewegen. Er «flüchtet» dann erregt gemütlich unter die nächstgelegenen Blätter oder Ästchen, um sich unsichtbar zu machen, nicht etwa um nicht gefressen zu werden, die Gefahr besteht wohl kaum, sondern um aus dem Weg zu gehen, da es, was immer dies auch sein könnte, unangenehm wäre davon zerdrückt zu werden.

 

Der Feuersalamander, von welchem hier berichtet werden soll, wurde nicht erdrückt oder geschweige denn angeknabbert. Er wurde überhaupt nicht erkannt, gesehen oder beobachtet, jedenfalls nicht von mir. Es war im Frühjahr. Der Brunnen unweit von der Eiche, von welcher später noch die Rede sein soll, füllte sich munter mit üppig strömendem Wasser aus dem schwarzen Hartgummischlauch, welcher von der Zapfstelle im Bächlein zum Trog führte. Der Brunnen war bis oben hin mit Wasser gefüllt, so dass es dort über die Ränder floss, wo diese am wenigsten hoch waren. Es war klar, der Ablauf, ein ebenfalls schwarzes Gummirohr welches in der Brunnenmitte bis drei Viertel des Wasserstandes nach oben ragte, ist verstopft gewesen.

 

Weil dieser Abfluss im Brunnen einen grösseren Durchmesser hatte als weiter unten, wo das Rohr das Wasser wieder in den Waldboden fliessen liess, nahm ich an, dass zwei Rohre zusammengefügt worden waren, und sich daher irgendwo eine Verengung befand, in welcher sich Laub und feine Ästchen zu einem veritablen Zapfen verdichtet hatten. Mit einem Draht wollte ich diesem Hindernis zu Leibe rücken und so dem Wasser freie Bahn verschaffen. Um eine bessere Wirkung zu erzielen, formte ich das Ende des Drahtes zu einer Schlaufe, mit welcher ich durch Drehung des Drahtes die nötige Auflockerung bewirken können sollte. Das Drahtstück wäre lang genug gewesen, um das ganze Rohr zu durchstossen. Aber genau dort, wo ich die Verengung des Rohrs vermutete, kam ich nicht weiter. Weiteres Stossen am Draht ergab keine Fortschritte. Es fühlte sich lediglich so an, als würde der Draht auf ganzer Länge spiralig zusammengestaucht, aber nicht wirklich vorangetrieben.

 

So zog ich den Draht wieder hinaus ohne, dass es sich beim Abfluss eine Veränderung ergab. Die vordere Schlaufe des Drahtes war verbogen aber ohne Reste, welche auf die Verstopfung hätten hindeuten können.

 

Ein erneuter Versuch endete mit demselben Resultat. Ich änderte ohne klare Idee die Strategie und formte die Schlaufe zu einem Haken. Damit kam ich wieder bis zu dem kritischen Punkt, stocherte durch Drehungen des Drahtes in dem vermeintlichen Zapfen und zog dann den Draht zurück. Als endlich der Haken zum Vorschein kam, hing daran ein am Schwanz vom Draht durchbohrter Feuersalamander in halb verwestem Zustand.

 

Bis ich mich vom Schrecken dieses Anblickes erholen konnte, zeigte sich beim Abflussrohr bereits ein munterer Trichter des nun wieder abfliessenden Wassers. Den toten Feuersalamander nahm ich vom Haken und übergab ihn dem Waldboden, auf dass er Teil einer neuen Nahrungskette würde. Nachdem seine Aktivitäten eingestellt worden waren dient er nur noch als Futter für Mikroorganismen und nicht länger als putziges Lebewesen welches mein Herz erfreuen konnte.

 

Eine tiefe Trauer überkam mich. Schade um den schönen Salamander, aber ändern liess sich nichts mehr.

Die Nacht verbrachte ich in der kleinen Hütte daneben. Im Bett oben auf der Galerie, direkt unter dem getäferten Dach mit Blick auf die Querbalken des Dachdreiecks, zwischen welchen etwas Nachthimmel und silhouettenhafte Konturen der Bäume zu sehen waren. Müde vom Tag schlief ich ein. Dann aber mitten in der Nacht, es mochte der Laut eines Kauzes gewesen sein der mich weckte, lag ich mit geschlossenen Augen aber hellwach im Bett. Ich öffnete die Augen, konnte aber nicht viel sehen. Es dürfte gegen drei Uhr in der Nacht gewesen sein. Das Rauschen des Flusses war zu vernehmen, sonst herrschte Stille.

 

Die Augen schloss ich wieder, aber dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass der Feuersalamander im Abflussrohr vor der Verengung kopfüber blockiert worden sein muss, nicht mehr vorwärts und nicht mehr rückwärts konnte, gefangen in dunkelster Nacht, ohne die geringste Möglichkeit sich in eine bessere Lage zu bringen, ohnmächtig, dem Tod geweiht, verloren. Ich riss entsetzt die Augen wieder auf, um der grässlichen Vorstellung zu entfliehen, war dankbar für Konturen der Bäume und die blassen Streifen des Nachthimmels zwischen den Balken.

 

Ich schloss die Augen schon wieder, aber umgehend stellte sich abermals diese ausweglose Vorstellung ein, unerträglich, so dass ich mich im Bett aufsetzte, etwas im Aussen zu erkennen versuchte und wusste, wieder hinlegen ist nicht möglich, ohne ob der Vorstellung des sterbenden Feuersalamanders in Panik zu geraten. Wie lange ich sitzend auf der Matratze verharrte vermag ich nicht zu sagen. Ich versuchte zunächst den Gedanken des blockierten Feuersalamanders, zu verdrängen, musste aber erkennen dass die Vorstellung viel zu präsent und zu stark war, als dass ich mich buchstäblich hätte darüber hinwegsetzen können. Die Tatsache, dass so etwas auf dieser Welt geschehen kann ist unerträglich, nicht fassbar, einfach unmöglich und doch offensichtlich.

 

Wie kann so etwas nur geschehen? Natürlich ist jener ein Trottel, der den zu kurzen dicken Schlauch mit einem Stück dünneren verlängerte, so zwar das Abflusswasser an den richtigen Ort gebracht wurde, dem Feuersalamander aber auch eine tödliche Falle stellte, die an Bösartigkeit kaum zu überbieten ist. Dieser Trottel war nicht ich, aber was hilft das schon. Warum hätte jener brave Brunnenbauer einen weiteren Schlauch erstehen sollen, wo doch die zwei Stücke welche er schon hatte, den Zweck erfüllten. An den Feuersalamander denken der idiotischerweise durch den Bach über den Zufluss in den Brunnen gerät und sein Heil im Abfluss fand, ist etwas sehr weit hergeholt und viel verlangt. Der Feuersalamander hat Pech gehabt, unsägliches Pech. Doch dieser Gedanke half nicht weiter. Können wir nicht alle exakt in eine so extreme Ohnmachtsposition kommen, ohne dass im Vorfeld auch nur das Geringste zu ahnen wäre?

 

Ich begann in meinen Erinnerungen zu kramen. War ich denn schon einmal in einer ähnlich misslichen Lage wie dieser Feuersalamander? Nein natürlich nicht, sonst wäre ich ja schon längst tot. Also ist es aussichtslos? Da muss doch etwas vorhanden sein was mir das Wesen von Ohnmacht im echten Leben schon vermittelt hat – auch wenn ich nicht daran schon innerlich gestorben bin.

 

Ich schaute in den gestreiften Nachthimmel, der mir nun aber schon etwas aufgehellter vorkam.

Mitten in der Nacht, bevor es hell wird, ist es am dunkelsten, dachte ich. Ich hatte mal so einen Moment. Natürlich, jetzt

erinnerte ich mich glasklar an eine längst verdrängte Episode welche hätte böse ins Auge gehen können.

 

Ich hatte mich – und das war nur eine geringe Verschärfung des Problems – nach befohlener Nachtruhe ebenso unbemerkt wie unerlaubt von der Truppe entfernt, mit meinem Auto den Julierpass überquert um in Silvaplana die Dame meines Herzens zu besuchen. Ein kurzes Schäferstündchen in jugendlichem Übermut und die Obligation, noch vor dem Morgengrauen, wieder zurück in der Unterkunft unweit von Tiefencastel zu sein. Beschwingt vom Ausbruch aus der geordneten Welt und deren umfassender Kontrolle, trat ich gegen drei Uhr in der Früh den Rückweg an. Die Strasse hatte ich für mich allein und die Motivation, den Rückweg möglichst rasch hinter mich zu bringen, stieg mit jeder Fahrminute. Ein Stück weit hinter der Passhöhe türmten sich noch teilweise beträchtliche Schneemassen am Strassenrand welche der noch zarten Frühjahressonne zu trotzen vermochten. Jedoch, wie ich Ausgangs einer Rechtskurve feststellen musste, wurde den Tag durch die Strasse mit Schmelzwasser überzogen welches nun gefroren war und mir mitten in der Kurve zum Verhängnis wurde. Statt wie beabsichtigt die Kurve zu vollenden schlitterte der Wagen gerade aus gegen den Rand und damit auf den Abgrund zu. So als würde auch ich geradewegs einfrieren kam in diesem Augenblick alles zum Stillstand.

Die Ausweglosigkeit der drohenden Katastrophe brachte alles zu einem schockartigen Stillstand. Instinktiv drehte ich das Steuer weiter nach rechts, in der Hoffnung noch etwas ändern zu können, aber ich fühlte nichts mehr, hatte ein Standbild vor den Augen und gab mich dem Verderben hin, als ob mich das alles gar nichts anginge.

 

Erst als der Wagen wenige Meter später mit einem heftigen Ruck nach rechts ausbrach, dies weil die Glatteisfläche nicht weiter reichte, und ich sodann abermals instinktiv das Gegensteuern diesmal nach links gab, kehrte ich zurück in die Welt der bewegten Bilder und konnte den Wagen so auf der Strasse halten und nicht in den bergseitigen Hang rasen. Der Schock, welcher den sicheren Tod vor Augen erträglich machte, klang langsam ab und es begann im Kopf zu rumoren wie schlimm das hätte enden können. Wagen zerstört, unerlaubtes Entfernen von der Truppe, Querschnittlähmung, alles Vorstellungen welche ich nicht herbei sehnte, die nun aber kamen und mir den Ausflug fürs erste als totale Fehlleistung erscheinen liessen. Später empfand ich Dankbarkeit dafür, dass die Glatteisspur über die Strasse nicht noch breiter war, ich das Steuer noch rechtzeitig herumriss und so dem Schlimmsten entrinnen konnte.

 

Jetzt aber in dieser Nacht mit der schrecklichen Vorstellung an den blockiert sterbenden Feuersalamander kam ein völlig neuer Gedanke hinzu für welchen ich zeitlebens sehr dankbar bin.

 

In diesem Augenblick grösstmöglicher Ohnmacht setzt jegliche Wahrnehmung aus. Ein schockartiger Zustand vollkommener Stille und einfrierender Geschehnisse, frei von jeglichen emotionalen oder rationalen Wahrnehmungen, stellte sich ein.

Mit der nicht länger vorhandenen Handlungsfähigkeit verschwindet auch jede Art von Lebendigkeit und alles wird bedeutungslos noch ehe man die Welt verlassen hat.

 

Wäre das Auto weiter über die Strasse und in den Abgrund geschlittert wäre, bei diesem gefrorenen Bild angenehmer Zeitlosigkeit, alles im Hier und Jetzt geblieben. Kein Aufprall, kein Schmerz keine Wahrnehmungen mehr, alles durch den Schock blockiert. Mit dem Hirn, mit welchem wir zu erkennen glauben das wir leben, werden wir nie erfahren, dass wir gestorben sind.

 

In diesem Sinne sind wir unsterblich. Was wir mitbekommen ist ein Filmriss und mehr nicht. Damit wird der Tod zur Lachnummer. Die Vorstellung, dass der Feuersalamander im Rohr unerträgliche Panik durchleiden musste, zum Witz.

 

Nein, der Feuersalamander versuchte, mit all seiner Willenskraft sowie Energie, aus der wenig erfreulichen Situation heraus zu kommen. Er probierte das Steuer herumzureissen, aber mit der Aussichtslosigkeit des Unterfangens, schwand auch die Möglichkeit sich zu retten, weil eben die grosse Rettung, die schockartige Verabschiedung in die Dissoziation zwingend eintritt und so die schreckliche Vorstellung ganz real verhindert wird.

 

Bildlich gesprochen hat der Feuersalamander sein energetisches Bestreben, aus der Röhre zu kommen bei schockartig erlebter Aussichtslosigkeit seines Unterfangens aufgegeben und so den Ort des Geschehens elegant verlassen.

 

Ich legte mich zurück, zog die Decke hoch und schloss einmal mehr die Augen. Nichts weiter von einer Panik machenden Vorstellung oder auch Panikattacke. Nein, der Feuersalamander hat einfach seinen Weg durch aktive Taten hinter sich gebracht bis ein weiteres Vorankommen nicht mehr möglich war. Und weil es nicht mehr möglich war, hat er diese Sackgasse durch sich selbst verlassen, blieb nicht im Rohr stecken sondern im Bestreben, der misslichen Lage zu entfliehen, was sodann unter Schock von selbst erfolgt.

 

Es gibt viele solche Beispiele: Nacktschnecken die unter praller Sonne zu Tode kriechen, flüchtende Zebras welche im wilden Galopp vom Löwen gerissen werden, Affen die am austrocknenden Wasserloch von Krokodilen verstümmelt werden und folglich steht zu vermuten, dass alles Leben exakt auf diese Weise einen scheinbaren Abschluss findet. Alles entpuppt sich somit doch nur als eine unter Schock vollzogene Metamorphose oder eben als sich fortlaufende Veränderung welche neuen Leben schafft und Altes frisst. Was in der Vorstellung, jedoch niemals im erlebten Hier und Jetzt, schmerzhaft erscheint, schlimmstenfalls schockierend sowie folglich nicht wirklich wahr ist.

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